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Handwerk und doppelter Boden

Songcontest-Vorausscheidungen in den einzelnen Ländern sind nur gehorsame Vorboten paneuropäischen Inszenierungsunbehagens. Eine Analyse.

Wien (31. März 2005) - Wer dem leider oft grausigen Treiben am Fernsehschirm beiwohnt, stellt den Ton in der Regel aus gesundheitlichen Gründen an die Gerade-noch-Hörbarkeitsschwelle, denn stets hält das intonatorische Roulette der Interpreten den Genuss der Rezeption in schmalen Wohlfühlgrenzen. Hört man bei Germany 12 Points [ARD, 12. März 2005] aber Stefan Gwildis, kann man getrost für den Song lauter stellen, er schafft das, Handwerk hat goldenen Boden, Gott sei Dank. Aber schön der Reihe nach.

In Österreich: ORF

Während in Österreich der ORF [Song 05 am 25. Februar 2005] den Höhepunkt der vergangenen Katastrophen-Vorausscheidungssendungen aus dem Jahr 2004 mit einem überarbeiteten Konzept und mit einer unter Musikberatungshilfe [ja, das gibt es noch, eigentlich: wieder!] entstandenen "Show" zu verwischen suchte, wollte Jürgen Meier-Beer [NDR-Song Contest Verantwortlicher] auf Qualität [keine Slatkos etc.] setzen und damit hart am Quotenerfolgswind segeln - was gehörig in die Hosen ging [magere 3,5 Millionen].

Vielleicht finden die Öffentlich-rechtlichen im Absturz wieder zu sinnvollen, längerfristigen Konzepten zurück und stilisieren den ESC-Vorentscheid nicht jedes Jahr neu zum magisch anvisierten, Major-hörigen Quotenheuler tot. In Österreich wieder standen Majornominierungen nicht an erster Stelle der Ideenlandkarte für den Vorentscheid. Lieber holte sich der ORF das heimische A&R-Urgestein Markus Spiegel als Berater und fandete nach einigermaßen arrivierten Acts, was im selbstverschuldeten Newcomerverunmöglichungsland Österreich gar nicht so leicht ist.

Die sogenannten alten Big Names würden für Österreich sicher gerne zum Song Contest reisen, aber einer Vorausscheidung wollen sich diese [verständlicherweise] nicht stellen. Selbiges gab Heinz Rudolf Kunze in der ARD offen zu. Im Sinne dieser Qualitätssicherungsidee gab es am Küniglberg also nur fünf Mitstreiter, die dafür zwei Lieder vortrugen. Die jeweils zweiten Auftritte erzielten jedoch keinen erweiterten Künstlerdarstellungseffekt, mit einer Nummer hätten wir auch alles gewußt. Das zumindest riecht nach wieder einmal neuem Konzept in 2006.

Alf Poier gewann nach der absoluten Zahl der abgegebenen Stimmen, Global Kryner jedoch gewannen den Bewerb, weil die Punktevergabe ganz wie beim Song Contest pro Bundesland passierte und die SMS-Stimmen in einer eigenen Wertung als quasi 10. Bundesland addiert wurden. Nähere Informationen zu dieser tatsächlich unguten Wahlarithmetik finden sich im Artikel Einer muß der zweite sein. Das - und die Verteuerung der Voting-Telefongebühren - ließ neben den Künstlern und dem ORF die gesamte Veranstaltung nicht als Sieger vom Platz gehen. Eigentlich schade.

Trotz dieser Beeinträchtigungen ist die Wahl des Österreichvertreters glücklich zu nennen, denn Global Kryner [Y Así, mit englischer Strophe und spanischem Refrain] stehen für ein durchdachtes A&R-Konzept mit internationalen Chancen auf der Basis topmusikalischen Könnens: Pop, Jazz, Salsa etc. im Oberkrainer-Sound [»Ohne Schild wird man Österreich beim ESC erkennen«, O-Ton Spörk] mit Dirndl und im Trainingsanzug. Das kommt nicht von ungefähr. Mit Christoph Spörk, bekannt von einem der absolut fantastischen österreichischen Musik-Comedy-Ensembles Landstreich, ist ein eloquenter und selbstständig agierender Mastermind am Werk, der sich mit dem richtigen Team (z.B. Hage Hein) in aussichtsreiche musikalische Gefilde manövriert. Seinen offenen und mutigen Kommentaren zu den anderen Vorausscheidungsteilnehmern in der Wiener Stadtzeitschrift City ist im vollen Umfang zu gratulieren.

Alf Poier als »Provokateur der völkerlosen Begierde und des absoluten Individualismus« – so seine Selbsteinschätzung – verstrickte sich ein wenig in seinem Kritik-Provokations-Amateurmusiker-Konzept, obgleich er in seinen Inhalten stets recht behält und seine Auftritte durchaus als kurzzeitig erfrischend durchgehen. Olympisch hatte er seine Teilnahme an der Vorausscheidung aber ganz gewiss nicht geplant. Sein Lied Hotel, Hotel stellte er im Vorspann kokett mit überzeugender Selbstvernichtung vor: »Es ist ein kompletter Mist«. Der Refrain »Guten Morgen, ich bin das Frühstück« stimmte dem Grufti-Clown [Outfit bei Good Old Europe Is Dying] in dieser Angelegenheit bereitwillig zu.

Marque hielt sich bei seinen zwei Songs im langsamen Tempobereich auf, hatte Beatles und Alte Musik nachgehört. Er schreibt und spielt, was ihm Spaß macht, und das ist sympathisch. Jade Davies [Ex-Unique2] mit internationalem Diven-Pop-Rock und Mystic Alpin, die sich mit dem Song Back Home und gröberen Intonationsunsicherheiten wieder nach Hause spielten, rundeten den Auftrittsreigen ab.

In Deutschland: ARD

In Deutschland stellt sich mit Ende des Abends die seit Jahren bekannte Erkenntnis wiederum ein, daß die Castingkünstler noch immer die fleißigsten Voter auf sich vereinigen, anders wäre ein Finale Gracia Baur versus Marco Mathias mit Nicole Süßmilch [stimmlich spielend von ihrem Partner an die Wand gedrängt] nicht möglich gewesen, denn sie alle stellten zum x-ten Mal ihre halbgare Könnerschaft des „echten“ Castingshowabsolventen unter Beweis. Beim Präsentationsvorspann drängte die ARD die Teilnehmer in ein Korsett von Textrezitationen und vorgegebenen Fragen (»Ich hasse ...«, »Ein glücklicher Moment ...«). So steigert man definitiv nicht diese leider in der Regel einfallslosen Selbstauskünfte der Sangeskünstler.


Leuchturm in der Einöde: Stefan Gwildis, mit Label-Chef Heinz Canibol an der Gitarre, bei der Probe. (Bild: NDR)

Sonst gab es die aus der Schweiz stammende Ex-Bravo TV-Moderatorin Mia Aegerter, die ein Alternative-Rock-Feeling in die Halle strömte und Udo Lindenberg, der als Texter und Komponist in Erscheinung trat und als Interviewter zum Schmusen und Poppen satt Krieg-Machen aufrief.

Diese Botschaft exekutierte die an den freigelegten Körperstellen heftig glänzende holländische Ex-Kunstturnerin mit Wildcard Ellen ten Damme mit Ich greif zum Telefon, ruf an im Pentagon: Mein Mann kann nicht kommen, ich hab ihn plattgeliebt – Au weia! Die von dieser Botschaft oder besser der sexy Interpretin sich auch plätten lassen wollenden Zusehmänner durften aus Haussegensgründen offensichtlich nicht zum Abstimmungstelefonhörer, sonst hätte diese George-Botschaft Kiev im Mai wohl in seinen Grundfesten erschüttert.

Orange Blue fischten in ihren angestammten Gewässern der Klavier-Pop-Ballade ohne an diesem Abend die entsprechende Stimme für solchen großen Mainstream-Pop zur Verfügung zu haben. Dania König fühlte sich, bereits hochschwanger, mit ihrer Band Königwerq zumindest im Songtitel "Unschlagbar" .

Villaine sang über gleichgeschlechtliche Liebe Ein Kuss von dir ist wie Adrenalin und wird auf Koch Universal veröffentlicht. Die Alle der Kosmonauten bewiesen mit einer beseelten Vorstellung und einer ehrlichen Performance, daß Christ-Pop abseits von Xavier Naidoo definitiv salonfähig geworden ist.


Sieg durch Pakt mit Mephistopheles oder symbolische Ahnungslosigkeit? - Gracia (Bild: NDR)

Gracia, aufgrund guter Chartsplatzierungen ebenfalls mit einer Wildcard - sie mußte sich also nicht extra qualifizieren - ausgestattet, "performte" mit Jeans und Büstenhalter ein mainstreamiges Run & Hide. Sie wird Deutschland beim Songcontest in Kiew vertreten.

Heimlicher Sieger der ESC-Vorausscheidung war der stattliche, graue Hamburger Soul-Bär Stefan Gwildis, der mit Lokalbezug im Text [Wunderschönes Grau] und lässig-beschwingtem Playback unaufgeregt seine reife und sichere Stimme präsentierte. Auf diesem Niveau sollten eigentlich die Eintrittsbedingungen für den Vorentscheid liegen!

In der Moderation ein Unentschieden

Bei den Moderationen ging das Österreich-Deutschland-Duell unentschieden aus. Zwar waren die Ansager der Alpenrepublik in der Überzahl, doch einigte man sich nach den üblichen peinlichen Lustigkeiten aus dem Script und den bemühten, aber gähnend langweiligen Exklusivberichten aus den Greenrooms [Aufenthaltsort der Teilnehmer hinter der Bühne, der zu früheren Zeiten aus Beruhigungsgründen in England immer grün gestrichen war] auf ein ermattetes Unentschieden.

Christian Clerici gab durchaus sympathisch den tatsächlich entspannten Austro-George-Clooney, Mirjam Weichselbaum hatte sich gut „aufgedreht“ und punktete die Garderobe betreffend im Minusbereich mit einem Kleid, das man seiner verhaßtesten Barbie-Puppe bei Leibe nicht über den Körper streift. Reinhold Beckmann in der ARD wiederum war sicher auf seinem Posten, musste natürlich die üblichen Song Contest Selbstbeweihräucherungsinterviews führen [Gildo Horn: »Ich fand es bis jetzt unheimlich stark und klasse, ich bin ganz platt!«], wobei er sich mit wechselndem Erfolg nobel aus der Affäre zog.

Gastauftritte gehen an Deutschland

Nachdem der ORF ausschließlich die Musik der Kombatanten präsentierte, entschied die Gastauftrittswertung Deutschland unschwer für sich: Emma, Ex-Spicegirl [Gäste dürfen Vollplayback]; Patricia Kaas mit Peter Plate [Rosenstolz] und Ruslana [gleich zweimal schüttelte sie die Anwesenden heftig mit dem Leder-Ethno-Rockerl durch].

Also: Song Contest, wo gehst du hin? Wahrscheinlich den vorgezeichneten Weg in die Bedeutungslosigkeit oder eben immer weiter nach Osten. Dann folgt die Neugründung als Asianvison Song Contest. Auch Meier-Beer mußte nach der Quotenschlappe bekennen: »Die Frage, wer Deutschland international vertritt, hat aber leider nicht mehr das Interesse gefunden wie früher.«

Ausblick

Da im internationalen Zusammenhang lokale Castingkünstler das maximal Uninteressanteste darstellen, das vorstellbar ist, wird sich Österreich [Global Kryner] mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beim ESC vor Deutschland [Gracia Baur] klassieren. Ob die Schweiz in der GSA-Wertung ein Wörtchen mitzusprechen haben wird, das wird Wohl oder Wehe des Ostbonuses der vier jungen Damen aus Estland [Vanilla Ninja] entscheiden, die diesmal ohne Vorentscheid für die Eidgenossen ins Rennen gehen und den gleichen Produzenten wie Gracia, David Brandes, vorzuweisen haben.

PS: Achtung Playback: Der ORF filmte mehrmals und in aller Ruhe die Dämpfer-Pads des Schlagzeugs ab, in der ARD fingerte Al Di Meola, zusammen mit Sängerin Leonid Agotia die pulsierende Fusion-Pop-Samba Cosmopolitan Life zelebrierend, sein langes Virtuosensolo ohne Kabel und Sender hin - das war tüchtig!


Günther Wildner, Musikmanager und Verleger, beobachtet jährlich das Fernduell der österreichischen und deutschen Song Contest Vorausscheidung.

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